in der PNN am 1.12.2012 erschienen:

Schaurig schön

von Heidi Jäger

Geschichten „Zwischen hell und dunkel“: Zehn Frauen erzählen in der „Scholle 51“

Es wird auch gruselig zugehen, wenn am morgigen Samstag die zehn Frauen vom „Erzählwerk“ ihren samtweichen indischen Teppich im Foyer der „Scholle“ ausrollen und „Zwischen hell und dunkel“ die Magie des Geschichtenerzählens beschwören. Da kommen „Drei Feldscherer“ des Weges, schnippeln sich im Wirtshaus die Hand ab, nehmen Auge und Herz heraus, um ihre Kunst des Wunderheilens zu beweisen. Denn sie sind sich sicher, dass sie mithilfe von zauberkräftigen Salben und Tinkturen ihre Körperteile wieder einsetzen und ankleben können. Aber wie das so ist im Leben: Erstens kommt es anders und zweitens als die Feldscherer denken. Hand, Auge und Herz werden unbeobachtet von der Katze gefressen. Die von der Wirtstochter untergeschmuggelten Ersatzteile vom ausgeschlachteten Schwein und Dieb bringen die drei Feldscherer in missliche Lagen.

„Dieses eher unbekannte Märchen der Gebrüder Grimm geht ins Eingeweide und ist schon fast eine Burleske“, sagt Suse Weisse, die Leiterin des „Erzählwerkes“, über eine der vielen Geschichten, mit denen die Frauen das Publikum vorweihnachtlich fesseln wollen.

Wie bereits im Vorjahr zur längsten Nacht des Jahres, „wenn die Sonne um vier verschwindet und Weihnachten um die Ecke linst“, nehmen die zehn Frauen erneut ihren Erzählfaden auf und fühlen sich ein in die hellen und dunklen Seiten des Lebens. Sie erzählen weiter, was sich die Menschen schon vor Hunderten von Jahren in aller Welt in der dunklen Jahreszeit erzählten und spinnen manche Gedanken auf eigene Weise weiter. „Das wird schaurig schön und komisch. Und fast immer seltsam“, verspricht Suse Weisse.

Die Frauen haben sich die Geschichten selbst ausgesucht. Manchmal erzählen sie zu zweit, manchmal werfen sie sich Kommentare wie Bälle zu. Denn es ist kein Solistenprogramm, was da abendfüllend um ein großes weihnachtliches Buffet herum für Menschen ab zwölf Jahren präsentiert wird. Da gibt es auch Plattdeutsches zu hören oder eine Geschichte aus Old England, die berichtet, wie eine Frau beim Einkaufen für 60 Pence den Heiligen Gral findet, der ihr Leben tüchtig durcheinanderwirbelt. Ein anderes Märchen berichtet davon, wie ein armer Mann seinen reichen Nachbarn dazu bringt, an sich selbst zu verzweifeln. „Alle Geschichten haben etwas Unerwartetes“, sagt Suse Weisse.

Die Potsdamer Geschichtenerzählerin gründete vor gut anderthalb Jahren im T-Werk ihr „Erzählwerk“. Zur Gruppe gehören Frauen aus dem künstlerischen und pädagogischen Bereich, darunter eine Bibliothekarin, eine Lehrerin und eine Puppenspielerin. „Und alle sind inzwischen richtig gute Erzählerinnen geworden“, sagt Suse Weisse, die sich inzwischen vom T-Werk getrennt hat und in der „Scholle 51“ ansässig geworden ist. Dort haben sie geprobt und bringen jetzt den zweiten Teil der Geschichten „Zwischen dunkel und hell“ zur Premiere: im Foyer unterm Dach, das 60 Leuten Platz bietet. Die Zeit im Kunst- und Atelierhaus „Scholle 51“ ist allerdings wieder nur ein Intermezzo, denn wie in den PNN berichtet steht es zwei Jahre nach Eröffnung vor dem Aus. Der Grund: Der Eigentümer, die evangelische Heilig-Kreuz-Gemeinde, hat das Gebäude in der Geschwister-Scholl-Straße 51 an den Veritas Pflegedienst verkauft. „Und das ohne Not. Es ist schon bitter. Die Scholle hat sich zu einem wirklichen Treffpunkt der bildenden und darstellenden Künste entwickelt.“ Suse Weisse hofft, dass das ganze Stadtteilnetzwerk Potsdam-West, das die „Scholle 51“ ins Leben gerufen hat, zusammen neue Räume finden wird. Sie würde sich gern weiter in diesem Netz verstricken. Das jetzige „Erzählwerk“ ist für sie die Basis für ein größeres Erzählprojekt, mit dem sie an Schulen, in Altenheimen oder in Asylbewerberheimen gehen möchte, um dort die Menschen ins Erzählen einzubinden, sie vielleicht selbst zum Erzählen zu animieren.

Die 49-jährige gebürtige Ostfriesin weiß, wie man Menschen quer durch die Generationen für die Bühne begeistert. Die Diplompsychologin und Theaterpädagogin baute nach der Wende ein Amateurtheater am Kammertheater Neubrandenburg auf, in dem Zehn- bis 60-Jährige gemeinsam ein Gespür für die Gesetze der Bühne entwickelten. Der Liebe wegen verließ Suse Weisse die Stadt und zog 2001 nach Potsdam-West, „das damals noch nach Ofenheizung stank und nicht so teuer und chick wie heute war. Dennoch habe ich es nicht bereut, dass ich hierher kam.“ Von hier aus möchte sie weiter an ihrem Erzählwerk bauen. Gern arbeitet sie mit Geschichten, die eine zeitliche Distanz haben. Egal ob Science Fiction oder Stoffe, die 300 Jahre alt sind. „Wenn man zu nah dran ist, sieht man oft zu wenig“, so Suse Weisse.

Samstag, 22. Dezember, 19 Uhr, in der „Scholle“, Geschwister-Scholl-Straße 51, Eintritt 5 Euro, einschließlich Buffet